Schule gestalten

Menschen stärken

Kooperationen stiften

Europäische Sozialfonds

„Ich weiß nicht mal, weshalb die Kinder fort sind“: Am 8. März vor 80 Jahren begann in Mecklenburg der Völkermord an den Sinti und Roma

Start 9 Aktuelles 9 „Ich weiß nicht mal, weshalb die Kinder fort sind“: Am 8. März vor 80 Jahren begann in Mecklenburg der Völkermord an den Sinti und Roma
Brief Anna Rose an Kriminalamt Schwerin, 20. August 1941 (Stadtarchiv Waren)
Veröffentlicht am: 6. März 2023
Beitrag aus dem Bereich: Aktuelles | Nachrichten
Vor 80 Jahren verschleppten die Nationalsozialisten Sinti und Roma aus Mecklenburg-Vorpommern in das Konzentrationslager Auschwitz. Mehr als die Hälfte von ihnen waren Kinder. Über das Leben der Sinti und Roma im Nordosten und über den Kampf der wenigen Überlebenden um Selbstbehauptung nach 1945 hat die Historikerin Natalja Jeske nun einen Essay geschrieben - Buchpremiere am 24. April 2023 in der Regionalbibliothek Neubrandenburg.

Eine Familie wird zerstört

In dem beschaulichen mecklenburgischen Dörfchen Satow (bei Malchow) ereignete sich vor 80 Jahren Dramatisches. Am 20. August 1941 schrieb die Sintiza Anna Rose an das Kriminalamt Schwerin in einem Brief: „Ich weiß nicht mal, weshalb mein Mann und die Kinder von mir fort sind.“ Vier Monate zuvor hatten ihr die Polizeibehörden die drei 16, 15 und 13 Jahre alten Kinder Anna-Elisabeth, Emma und Gottlieb weggenommen und in das Gefängnis nach Neustrelitz gebracht. Der Vater der drei, Friedrich-Wilhelm Rose, war ebenfalls verhaftet worden. Er verstarb nur kurze Zeit später im Konzentrationslager Auschwitz. In ihrem Brief schreibt Anna Rose mutig weiter, bittet um Erklärung und darum, die Kinder wieder in die Obhut ihrer Mutter zu geben:

„Ich möchte doch höflichst darum bitten mir mitzuteilen, weshalb die Kinder und der Mann von mir weggenommen sind und dieselben doch meine Brotverdiener waren und sich nichts zu Schulden kommen lassen haben. Sie waren doch alle fleißig in ihrer Arbeit und sind keinem Menschen zu nahegetreten. Jedem Vater und Mutter tut doch immer das Herze weh, wenn die Kinder zusammen solange gearbeitet haben 2 Jahre in Satow und nun auseinandergerissen sind und nun von der Mutter weg waren jetzt das erste Mal. (…) Die Mutter hat keine Ruh wegen der Kinder.“

Erste Seite des Briefes von Anna Rose an das Kriminalamt Schwerin, 20. August 1941 (Stadtarchiv Waren)

Auch Annas jüngste Söhne Franz und Alex, damals 11 und 9 Jahre alt, waren ihr vom Jugendamt weggenommen und in das katholische Kinderheim in Neustrelitz eingewiesen worden. Anna-Elisabeth, Emma und Gottlieb kehrten aus dem Gefängnis wieder zur Mutter zurück, Franz und Alex aber mussten im Kinderheim bleiben.

Verhaftungen in Weitin und Neustrelitz: Am 8. März 1943 beginnt die Polizei, 200 Sinti und Roma aus Mecklenburg nach Auschwitz zu verschleppen

Fast zwei Jahre später, am 8. März 1943, wurden Franz und Alex aus dem Kinderheim abgeholt und von Polizisten in das Gefängnis von Neustrelitz gebracht. Dem Heimkaplan Heinrich Kottmann, der vom Alltag im Heim Fotoaufnahmen machte, gelang es, den Moment des Abtransports der Kinder heimlich zu fotografieren.

An diesem Märztag nahm die Polizei in Mecklenburg im Rahmen einer landesweiten Verhaftungsaktion mehr als 200 Sinti und Roma festgenommen. Das Gefängnis in Neustrelitz diente als zentraler Sammelplatz. Auch in Weitin bei Neubrandenburg, wo viele Familien der Sinti seit Generationen lebten, fanden früh am Morgen Verhaftungen unter Beteiligung von Dorfbewohnern statt. Ausnahmslos alle dort lebenden Sinti*zze wurden von nach Neustrelitz verschleppt. Anna Rose und ihre Kinder Anna-Elisabeth, Emma, Gottlieb sowie die jüngste Tochter Ella waren am Morgen des 8. März ebenfalls verhaftet worden.

Ein Transportzug, der am 11. März in Hamburg mit Sinti- und Roma-Familien aus dem Hamburger Raum gestartet war, machte in Neustrelitz halt. Dort wurden die wartenden Kinder, Frauen und Männer in die Güterwaggons gedrängt, die lediglich mit Stroh ausgestattet waren. Insgesamt rund 500 Sinti und Roma aus Norddeutschland wurden mit diesem Transport nach Auschwitz verschleppt. Mehr als die Hälfte von ihnen waren Kinder. Als der Zug am 15. März in dort ankam, waren bereits etliche Menschen verstorben.

Von der Familie Rose mit insgesamt neun Kindern kehrte allein Emma Rose aus Auschwitz zurück. In ganz Mecklenburg-Vorpommern erinnert bislang nur eine kleine Tafel am Kinder- und Jugendhaus der Caritas in Neustrelitz an den Völkermord der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma.

Warum ein Gedenken und Erinnern notwendig ist

Es ist vor allem dem Mut von Anna Rose und den Bemühungen des Kaplans Heinrich Kottmann, ihrem Brief und seinen Fotos zu verdanken, dass das Wissen um die Verfolgung und die Zerstörung ihrer Familie durch Behörden und Polizei unter dem Hakenkreuz überliefert werden konnte. Mit diesen und anderen Materialien hat die renommierte Historikerin und Annalise-Wagner-Preisträgerin Dr. Natalja Jeske die Geschichten von der Familie und vieler anderer Sinti und Roma in Weitin, Neustadt-Glewe und weiteren Orten Mecklenburg-Vorpommerns rekonstruieren und erzählen können. Soeben ist ihr Essay „Sinti und Roma in Mecklenburg-Vorpommern. Geschichte in Biografien“ erschienen – die Buchpremiere findet am 24. April in der Regionalbibliothek Neubrandenburg statt.

Der Essay ist eine Publikation der Geschichtswerkstatt zeitlupe in Trägerschaft der RAA | Demokratie und Bildung Mecklenburg-Vorpommern e. V. und der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern“. Die Geschichtswerkstatt zeitlupe wird von der Freudenberg Stiftung gefördert.

Weitere Dokumente zum Schicksal der Familie Rose und Infos zur Publikation finden Sie hier.

Weitere Beiträge