Im Oktober 2024 richtete die Serviceagentur eine mehrtägige Fortbildung in Estland für Lehrkräfte aus Mecklenburg-Vorpommern aus. Mit finanzieller Hilfe der Europäischen Union konnten Vertreter*innen aus unterschiedlichen Schulen zum europäischen Spitzenreiter in der aktuellen PISA-Vergleichsstudie reisen.
Universtität Tartu – Lehrerbildung in Estland
Kooperationspartner der Serviceagentur war die Universität Tartu, eine lehrerbildende Institution mit ca. 20.000 Studierenden. Am ersten Tag der Fortbildungswoche stand eine Einführung in das estnische Schulsystem und die Lehrkräftebildung im Zentrum. Wichtigster Unterschied zu Deutschland ist das eingliedrige Schulsystem bis Klassenstufe 9. Estland ist für seine Bemühungen um gleiche Bildungschancen für alle Kinder bekannt. Die Lehrkräfteausbildung erfolgt einphasig in der Verantwortung der Universitäten. Immer mehr Schulen entwickeln sich zu Ganztagsschulen, um auch am Nachmittag interessante Bildungs-, Kultur- und Sportprojekte anzubieten.
Instagram-Reel von Tag 1 in Tartu
Guter Unterricht in Vorreiterschulen & evaluationsbasierte Schulentwicklung
Studienergebnisse zur Kenntnis zu nehmen und darüber zu diskutieren ist Teil der Schulentwicklung, durch Umfragen wird der Erfolg neuer Maßnahmen überprüft. In der „Forseliuse Kool“, die bis zum Abschluss der 9. Klasse führt, wird beispielsweise mithilfe von Befragungen die Neueinführung des selbstgesteuerten Lernens analysiert und kontinuierlich optimiert. In Zusammenarbeit mit der Universität Tartu arbeitet die Schule langfristig an der Etablierung neuer pädagogischer Konzepte, die die Schüler*innen durch interdisziplinäres, forschendes Lernen zu Neugierde und Interesse am Lernen bewegen. Der Unterricht startet aus lernpsychologischer Motivation heraus erst um 9 Uhr. Die Lehrkräfte werden wöchentlich durch regelmäßige Selbstevaluationen an die schulischen Paradigmen des guten Unterrichtens erinnert.
Die Schulen in Estland agieren hinsichtlich ihrer Pädagogik und Finanzplanung deutlich autonomer als Schulen in Deutschland. Sie verlangen ihren Schülerinnen und Schülern ein hohes Maß an Selbststeuerung ab, evaluieren ihre Entwicklungsprozesse kontinuierlich und sind gekennzeichnet von einer kooperativen Zusammenarbeit innerhalb der Schule sowie mit externen Partnern.
Bildungserfolg hat in Estland einen sehr hohen Stellenwert – Staat und Kommune machen sich dafür stark, Bildungschancen von frühester Kindheit an allen gleichermaßen zugutekommen zu lassen. Dieses Vorgehen wird als Grundstein eines stabilen Bildungserfolgs und einer gesamtgesellschaftlichen Chancengleichheit angesehen.
Die Schulen legen selbst fest, ob sie ihr Schuljahr in Halbjahren, Trimestern oder 7-Wochen-Einheiten organisieren. Es besteht neben den Pflichtfächern Estnisch, Mathematik und Englisch je nach Schulprofil eine große Bandbreite an Wahlfächern. Heranwachsende mit speziellen Förderbedarfen sind in die Regelklassen integriert, sodass auch innerhalb der Lerngruppen ein hohes Maß an Differenzierung stattfindet.
Instagram-Reel von Tag 2 in Tartu
Zusammenarbeit von Universität, Schulen und externen Einrichtungen
Eine nachhaltige Schulentwicklung wird vom „Eco Schools“-Programm unterstützt, das in zahlreichen estnischen Schulen und Kindergärten umgesetzt wird. Es wird vom „Loodusmaja Nature House“ in Tartu unterstützt, einem der vielen außerschulischen Lernorte, die entweder für Nachmittagsangebote oder sogar für den regulären Unterricht am Vormittag gebucht werden. Die Dozenten bieten Workshops zu Themen der Umweltbildung und Nachhaltigkeit an; ein Schwerpunkt liegt auf Verantwortungslernen und Handlungsorientierung.
Das forschende, individualisierte Lernen der Forselius-Schule entstand in Kooperation mit der Universität Tartu und dem „Science Center AHHAA“, das naturwissenschaftliche Phänomene spielerisch vermittelt und eine Reihe von Laboren und Schulführungen anbietet. Die „AHHAA“-Pädagogik wurde zunächst theoretisch gefestigt und im Zusammenspiel mit der Schule in ein konkretes pädagogisches Konzept transferiert, das fortlaufend reflektiert, wissenschaftlich begleitet und nachjustiert wird. Auf diese Weise verfolgt man eine stringente und konsequente Schul- und Unterrichtsentwicklung. Da das estnische System auch den Schulleitungen eine größere Verantwortung für die Finanz- und Aufgabenplanung zuweist, können Experten auf dem Gebiet der evidenzbasierten Schul- und Unterrichtsforschung angestellt werden, die von der Lehrverpflichtung befreit sind und sich hauptamtlich um die Schulentwicklung kümmern.
Kulturorte als Bildungszentren und Kooperationsquelle
Ein weiterer anregender Lernort in Tartu, der mit den Schulen vor Ort kooperiert, ist das Deutsche Kulturinstitut, das als gemeinnütziger Verein deutschbaltische Kultur- und Forschungsaktivitäten fördert und eine historische Holzvilla liebevoll restauriert.
Die Heino-Eller-Musikschule ist eine von zwei estnischen Musikfachschulen, die neben der normalen Schulbildung eine besondere Expertise in der Musikerziehung ausbilden und daher viele künftige Musiklehrkräfte hervorbringt.
Bemerkenswert ist außerdem das Unterrichtskonzept am Kristjan-Jaak-Peterson-Gymnasium: Dort wird, ähnlich wie in vielen finnischen Schulen, in 7-wöchigen Perioden unterrichtet. Die Schüler*innen können hier zum Beispiel das Wahlmodul „Deutsche Sprache und Kultur“ bei Muttersprachlern belegen und ein Sprachdiplom erwerben.
Instagram-Reel von Tag 3 in Tartu
Das Estnische Nationalmuseum: Kulturelles Erbe zum Entdecken
Das Estnische Nationalmuseum „ERM“ ist ein 2016 eröffnetes finno-ugrisches Ethnographiemuseum. Auf einer Fläche mit über 300 Metern Länge befinden sich über 1 Mio. Exponate, die seit den 1880er Jahren zusammengetragen wurden, darunter archäologische Raritäten, Trachten, Foto- und Filmaufnahmen, kulturgeschichtliche Zeugnisse und Nachbauten. Das Museum dient sozusagen als Gedächtnis Estlands. In einem Workshop beschäftigten sich die Lehrkräfte aus Mecklenburg-Vorpommern mit einigen markanten Exponaten. Die persönliche Auseinandersetzung mit Ausstellungsstücken und Lebensgeschichten stellt in der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern einen wichtigen Zugang zu neuen Erfahrungshorizonten und eigenen Reflexionen dar. Die Lehrkräfte aus M-V übten solche Techniken ein und bewerteten sie.
Abschlussworkshop – Transfer in die Schulpraxis
Im Abschlussworkshop der Universität Tartu haben die Teilnehmenden gemeinsam mit Kooperationspartnerin Erli Kontkar vom „Zentrum für Bildungsinnovation“ ein Resümee der Hospitation gezogen und den Transfer hilfreicher Impulse in die Schullandschaft Mecklenburg-Vorpommerns vorbereitet. Von Bedeutung sind insbesondere Elemente des selbstgesteuerten Lernens, die Nutzung von Evaluationen in der Schul- und Unterrichtsentwicklung sowie systematische Teammeetings mit dem Ziel, die schulinterne Zusammenarbeit effizienter abzustimmen.
Instagram-Reel von Tag 4 in Tartu
Fünf Monate nach Abschluss der Fortbildungswoche findet im März 2025 ein Folgetreffen der mitgereisten Lehrkräfte statt, bei dem konkrete Erfahrungen im Umgang mit transferierten bzw. bereits erprobten Praxisansätzen ausgetauscht werden.
Hintergrund: Das „Erasmus“-Programm als Unterstützung der Schulpraxis in M-V
Die Fortbildungswoche in Tartu wurde finanziell durch die Zuwendung des EU-Austauschprogramms „Erasmus+“ ermöglicht. Die Serviceagentur nutzt die Akkreditierung ihres Trägervereins RAA M-V, um mithilfe dieses Programms gezielt hilfreiche Impulse zur Schul- und Unterrichtsentwicklung in unserem Bundesland zu setzen.