5.5.1927 – 23.10. 2025
Die RAA M-V trauert um Dr. Judit Varga (-Hoffmann), einer Überlebenden der Shoah, die die Nationalsozialisten einst als 17-Jährige mit ihrer Mutter über Auschwitz, Gleiwitz und Ravensbrück ins KZ Retzow-Rechlin an die Müritz verschleppten. Sie verstarb am Morgen des 23. Oktobers 2025. Mit ihr geht eine wunderbare Frau, die so viel erlitten hat, die aber auch eine fantastische Zuhörerin war, mit feinem Gespür und Humor.


Über ihr Schicksal und das ihrer Familie begann sie erst spät zu erzählen. Dann jedoch war sie auch bereit, in Deutschland mit vor allem jungen Menschen ins Gespräch zu treten: ob beim Generationenforum der Dr. Hildegard Hansche Stiftung an der Gedenkstätte Ravensbrück oder am Runden Tisch im Bürgermeisteramt Rechlin, an dem sich eine Gruppe von Vertreter*innen der Gemeinde Rechlin, der RAA M-V, der Regionalen Schule Rechlin, der Gedenkstätte Ravensbrück, des Fusionvereins Kulturkosmos zusammenfand, um die komplette Neugestaltung einer würdigen Gedenkstätte zu realisieren.
Familie Hoffmann befand sich in einem der ersten Transporte, die Ungarn Ende April 1944 verließen. Ab Mitte Mai setzten Massentransporte ein. Für die Deportation und Ermordung so vieler ungarischer Juden hatte die SS eigens eine eigene Bahnabzweigung ins Innere des Vernichtungslagers.
„In Auschwitz…die Selektion war zu Ende, haben wir noch von weitem meinen in der Schlange Vater und meinen Bruder erblickt und wir haben einander gewinkt, das war unser letzter Moment, (dass wir) einander noch gesehen haben.“ Judit Varga (-Hoffmann)
Und die Welt sah zu …
Obwohl es zwei slowakischen Juden gelang aus Auschwitz-Birkenau zu fliehen, mit konkreten Aufzeichnungen der Vernichtung, den Gaskammern und der Warnung vor dem bevorstehenden geplanten Völkermord an den ungarischen Juden, obwohl dieser 33-seitiger Auschwitzbericht in den Wochen davor Großteile der Welt in Kopie und in zahlreichen Übersetzungen erreichte, griff niemand ein.
Unter der Leitung Adolf Eichmanns und mit Hilfe der ungarischen Behörden wurden über 437.000 Juden innerhalb weniger Wochen nach Auschwitz-Birkenau deportiert. In nur acht Wochen gingen täglich Züge mit über 7.000 Menschen, darunter Judits Mutter und Vater, ihr Bruder, ihre Großmutter und weitere 39 Familienmitglieder – fast eine halbe Million Menschen, das entspricht zahlenmäßig ungefähr der heutigen Einwohnerzahl der deutschen Stadt Duisburg oder mehr als zwei Mal der Einwohnerzahl von Rostock. Über 80 Prozent ermordeten die Deutschen unmittelbar nach ihrer Ankunft, darunter auch Judits Vater.
Das KZ Retzow-Rechlin in Mecklenburg-Vorpommern
Unweit des heutigen Fusiongeländes, mitten im Dorf Retzow, befand sich ein KZ-Außenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück. Hierhin verschleppten die Nationalsozialisten mehrere Tausend Häftlinge, zumeist jüdisch, von Auschwitz und seinen Außenlagern. Anfang 1945 erreichten auch die damals 17-jährige Judit und ihre Mutter Hélen Hoffmann, geborene Schütz, dieses Lager. Die Häftlinge mussten täglich 12 Stunden schwere Zwangsarbeit leisten, hatten kaum Möglichkeiten sich irgendwo niederzulegen und froren entsetzlich. Hunderte starben an Entkräftung und Unterernährung.
„Und ich ging und ging, und ich habe in meinem Gedanken Nudeln gegessen und, weißt du, so… jetzt esse ich das und jetzt esse ich das… weißt du, das war das Zentrum meines Lebens, ich kann das nur so aushalten, dass ich während in dieser furchtbaren Kälte marschieren zum Flughafen in meinen Gedanken esse und esse, weißt du …“ Judit Varga (-Hoffmann)
Als das Lager am 2. Mai 1945 von russischen Truppen befreit wurde, bot sich den Soldaten ein schreckliches Bild. Die Wasser- und Stromversorgung war zusammengebrochen; Leichen lagen in den Baracken und mussten beerdigt werden, Todkranke wurden von der Bevölkerung notdürftig versorgt. Noch Tage und Wochen nach der Befreiung starben Menschen an den Folgen der Lagerhaft. Auch Judits Mutter erlebte die Befreiung nicht:
„Meine Mutti war dann schon maßgeblich… war dann schon furchtbar, wie sie ausgeschaut hatte, sie ähnelte sich nicht mehr. Dann hat sie mir gesagt: meine Tochter, jetzt werde ich sterben…“ Judit Varga (-Hoffmann)

Unsere Gedanken sind bei ihren Angehörigen…
Judit Varga (-Hoffmann) wird in unserem Herzen weiterleben. Unvergessliche Momente. Berührendes Erzählen einer trotz allem inniglichen Menschenfreundin, die für alle immer ein gutes Wort hatte und bis zuletzt interessiert war an den kleinen und großen Fragen dieser Welt.
Möge das Schicksal von Judit allen unvergessen bleiben, die neben ihrer Cousine als einzige den Holocaust überlebte.

Wir sind dankbar für das Vertrauen, das Judit Varga und ihre Familie uns seit Bestehen unserer Geschichtswerkstatt zeitlupe entgegenbrachte. Ihr Name ist uns Verpflichtung …
Der Film „Und ich war siebzehn!“ (2012, 38 min)
entstand auf der Basis eines mehrtägigen Interviews im Februar 2018 in Budapest, Ungarn
Weitere Materialien
- Projektmappe für den Unterricht von Anne-Marie Stark und Dr. Constanze Jaiser unter: https://zeitlupe-nb.de/de/materialsammlungen/materialien-fuer-den-unterricht-kz-aussenlager-retzow-rechlin-spurensuche-und
- „I was seventeen!“ – with English subtitles: https://youtu.be/hjTsY-R9C8I?si=v5a-K-0LuZd85Viz
- És én tizenhét éves voltam – magyar felirattal: https://youtu.be/sfULu1R-Ztc?si=Xi2lOerZdvBVn290
- WDR Zeitzeichen 07.04.2024 (15:49 min) „07.04.1944: Rudolf Vrba und Alfred Wetzler fliehen aus dem KZ Auschwitz-Birkenau“, https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/zeitzeichen/zeitzeichen-vrba-wetzler-auschwitz100.html)
Wir danken der Freudenberg Stiftung, dem Unternehmen EVONIK, wir danken Dr. Peter Plieninger, Carsten Büttner, Nadja Grintzewitsch, Elke Gamlin und ihren Schüler*innen aus Rechlin, der Gemeinde Rechlin, dem Kulturkosmos e.V., aber auch unseren Mitarbeiterinnen Anja Schmidt, Dr. Constanze Jaiser und Anne-Marie Stark, dass wir gemeinsam die Geschichte von Dr. Judit Varga (-Hoffmann) sichtbar machten und bewahren.




